Petras Tagebuch

Mutti

Wie immer bin ich mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren. Geht ja auch nicht anders, denn auf dem Kopfsteinpflaster mache ich mir nicht nur die Knochen kaputt, was viel schlimmer ist, auch das Fahrrad.
Da sagte ein sein Fahrrad schiebender Mann zu mir: »Mutti, steig‘ ab, hier darfst Du nicht fahren!« Ganz gegen meine Gewohnheit stieg ich entsetzt vom Fahrrad ab. »Ich bin keine Mutti, bitte nennen Sie mich nie wieder so und das nächste mal »Sie« und setzte mich wieder auf meinen Drahtesel.
Wer um Himmels Willen nennt einen Menschen Mutti? Und wer ist Mutti eigentlich? Mutti hat mindestens eine Wasserwelle, im schlimmsten Fall eine Dauerwelle. Mutti trägt Kittelschürze. Sie kocht, putzt, versorgt und kümmert sich bis zur Entmündigung ihres gesamten sozialen und familiären Umfeldes.
Mutti steht morgens um sechs auf, frühstückt mit der Familie und achtet darauf, dass die Ernährung ausgewogen ist. Vitamine sind ganz wichtig für die Gesundheit.
Zum Abschied richtet Mutti Vatis Krawatte. Sie kontrolliert, ob die Kinder Unterhemden tragen und ob sie auch in der Unterhose stecken.
Wenn alle das Haus verlassen haben, geht sie manchmal in die Spielbank, das ist aber ein Geheimnis. Ansonsten ist sie erdrückend perfekt.
»Ey Mutti, steig‘ jetzt endlich ab!« schallte es hinter mir. Wieder stieg ich ab und erwiderte aufgebracht: »Ich nenne Sie ja auch nicht Vati. Selbst meine Tochter wagte es noch nie, mich so bezeichnen, und die ist bereits 25 Jahre alt. Außerdem gibt es in diesem Land nur eine Mutti. Diese Mutti trägt prinzipiell zu große Knöpfe, ist langweilig gekleidet und die wichtigste Person in Deutschland, vielleicht auch in Europa.
Sie verstehen mich jetzt hoffentlich und hindern mich bitte nicht mehr daran, weiter zu fahren.« Ich setzte mich wieder auf mein Fahrrad und fuhr weiter.
»Ey absteigen!« hallte es mir nach.
»Ich weiß, dass es verboten ist, auf Bürgersteigen mit dem Fahrrad zu fahren. Ich tu es trotzdem.«
Dann erreichten mich noch wüste Beschimpfungen, die mir nichts ausmachten und bald war ich dank meiner schwächer werdenden Ohren und meiner rasenden Geschwindigkeit außer Hörweite.