Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-Kopf

Nr. 258 – Mittwoch, 3. November 1915
Der fleischlose Tag. Manche Hausfrau war gestern vormittag nicht wenig überrascht, als sie ihre Einkäufe beim Schlächter machen wollte, den Laden aber geschlossen fand. Viele Frauen hatten eben vergessen, daß gestern zum ersten Male die neue Bundesratsverordnung in Geltung trat, nach welcher Dienstags und Freitags Fleisch und Fleischwaren nicht verkauft werden dürfen. Viele andere Hausfrauen hatten jedoch an die neue Verordnung gedacht und am Montag abend die Schlächterläden förmlich gestürmt, als müßten sie Hungers sterben, wenn sie einmal ohne Fleisch sich behelfen müssen. Man darf wohl annehmen, daß der Sturm auf die Fleischerläden nur in der ersten Aufregung über die neuen bundesratlichen Bestimmungen erfolgt ist und die Hausfrauen künftig die fleischlosen Tage besser respektieren werden, denn sonst wird an diesen Tagen tatsächlich nur in den Restaurants an Fleisch gespart, und damit wird nichts oder nur wenig erreicht. – In den hiesigen Gastwirtschaften spielten gestern auf den Speisekarten die Fische ein große Rolle; man konnte Karpfen, Schellfisch, Kabliau usw. in den verschiedenen Zubereitungen erhalten. Auch Eierspeisen und Kartoffelgerichte fehlten nicht und statt der sonst üblichen Kraftbrühe gab es Kürbissuppe. Gewiß alles schmackhafte und sehr nahrhafte Speisen, welche die sonst gewohnten Fleischgerichte gar nicht vermissen ließen.

Nr. 271 – Freitag, 19. November 1915
Schwerer Vertrauensbruch einer Buchhalterin. Die 18 Jahre alte Buchhalterin Käte B. aus Neukölln war seit längerer Zeit in einem Berliner Beleuchtungsgeschäft angestellt. Der Inhaber M. wurde vor einigen Mnoaten zum Heeresdienst einberufen. Er beauftrage seine Buchhalterin, das Geschäft weiterzuführen. Seine Braut holte jeden Abend die Kasse ab und schloß die Räume. Seit einigen Tagen merkte sie wiederholt, daß die Kasse nicht stimmte. Die Buchhalterin machte jedesmal Ausreden. M. schrieb der Buchhalterin, daß bis zum Dienstag die Kasse in Ordnung sein müsse. Als er eintraf, war die Buchhalterin verschwunden. Er stellte fest, daß sie seit sechs Wochen fortgesetzt Geld unterschlagen und außerdem auf seinen Namen Lieferanten angeborgt hatte. Bis jetzt ermittelte er einen Schaden von 2000 Mark, er ist aber wahrscheinlich doppelt so groß. Die Ungetreue hatte das Geld zum Teil mit jungen Männern vertan, die sie zu Gelagen in das Kontor einlud. Ihr Bevorzugter war ein 16 Jahre alter früherer Postaushelfer K. Mit ihm ist sie jetzt durchgebrannt. Am Dienstag mittag fuhr ein Privatkraftwagen ohne Nummer vor und Fräulein B. und K. fuhren davon.

Nr. 278 – Sonnabend, 27. November 1915
Schränkt den Biergenuß ein! Ueber den Nährwert des Bieres und die Genußfreude an diesem Getränk ist schon unendlich viel geschrieben und gestritten worden. Der Streit soll nicht wieder aufgenommen werden. Aber die Tatsache, daß die für die Herstellung des Bieres notwendige Gerste zur Fütterung des Viehes und zur Flockenherstellung an Stelle der von den kleineren Kindern benötigten und gern genommenen Haferflocken treten kann, legt den zurückgebliebenen Männern und Frauen die zwingende Pflicht auf, den Biergenuß so weit wie möglich einzuschränken. Deutschland befindet sich in den größten und fürchterlichsten aller Kriege, den die Welt je gesehen hat. Ein jeder ist zum Mitkampfe verpflichtet. Ein jeder muß mithelfen, die Schwierigkeiten zu überwinden, die der Krieg dem deutschen Volke auferlegt hat. Infolgedessen muß auch ein jeder durch Verhalten und Lebensweise bestrebt sein, der Allgemeinheit zu dienen. Auch durch Einschränkung im Biergenuß dient man dem Vaterlande.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1915 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Der Krieg erreicht die Küchen

Fleischmangel erzwingt den »Veggie Day«

Die Idee vom fleischlosen Tag ist nicht ganz neu. Allerdings lassen sich die Deutschen ungern vorschreiben, wie und wann sie auf Wurst, Schnitzel und Schweinebraten zu verzichten haben. Das mussten die Grünen bei der Bundestagswahl 2013 schmerzlich feststellen.
In den entbehrungsreichen Kriegsjahren blieb den Menschen jedoch keine andere Wahl. Der sich verschärfende Mangel auf dem Nahrungsmittelmarkt erzwang eine radikale Änderung der Ernährungsgewohnheiten. Der Hausstand wurde in den Kriegszustand versetzt.

Postkarte zur Lebensmittelsversorgung im Ersten Weltkrieg
Postkarte zur Lebensmittelsversorgung im Ersten Weltkrieg.                 Foto: Deutsches historisches Museum

Von 1915 an wurde der Fleischverbrauch staatlich reguliert und fleischfreie Tage eingeführt. Am 28. Oktober 1915 erging eine Bundesratsverordnung, der zufolge montags und donnerstags in den Gastwirtschaften keine mit Fett zubereiteten Speisen angeboten werden durften, dienstags und freitags durfte überhaupt kein Fleisch, weder von Fleischern noch von Gastwirtschaften verkauft werden. Über die Einhaltung des Gebots wachte das eigens für diese Fragen gegründete Kriegsernährungsamt.
Mit dessen regelmäßigen Mitteilungen, in denen die Vorteile der Mangelernährung dargestellt und an die Opferbereitschaft und die Kriegspflicht des Einzelnen appelliert wurde, wurde die Bevölkerung ideologisch auf Linie gebracht. In einer Mitteilung vom 13. September 1916 heißt es: »Die Volksernährung im Kriege soll sein einfach aber nahrhaft und gesund. Im Frieden waren wir an eine großstädtische Ernährungsweise mit viel Fleisch, Eiern, Milch, Feinmehl, Zucker und Fett gewöhnt. Jetzt hingegen müssen wir uns halten an grobes Brot, Grütze, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Gemüse, Käse und Obst mit sehr wenig Fett und Fleisch. Diese Kost, wenn langsam gegessen und gut gekaut, ist der Gesundheit durchaus förderlich.« 

mr