Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. RempeNK_Tagblatt-Kopf

Nr. 130 – Sonntag  – 06. Juni 1915
Gegen die französischen Parfüme und kosmetischen Präparate wehren sich die Friseure und Drogenhandlungen jetzt energisch. Es sollen in Zukunft alle französischen Haarwasser, parfümierte Essenzen und Bartpflegemittel, sowie überhaupt alle kosmetischen Präparate nicht mehr geführt werden, weil man der Anschauung ist, daß die deutsche Industrie in der Lage sei, alle diese Artikel aus eigener Kraft ebenso vollkommen herstellen zu können, wie die französischen Firmen.

Nr. 136 – Sonntag – 13. Juni 1915
Weibliche Aushilfsbriefträger. Dem weiblichen Geschlecht erschließen sich jetzt zur Kriegszeit immer neue Berufszweige. Nachdem es bei der Straßenbahn und Untergrundbahn in umfangreichem Maße Verwendung fand und auch auf verschiedenen anderen Gebieten mehr als bisher eingestellt wurde, will sich nun auch die Reichspost ihrer mehr als früher bedienen. Nach einer neuen Verfügung sollen während des Krieges in denjenigen Orten, wo sich ein Mangel an männlichen Kräften bemerkbar macht, auch weibliche Personen im Bestelldienst verwendet werden.

Nr. 138 – Mittwoch  – 16. Juni 1915
Alle Bitten, Ermahnungen und Warnungen der Gemeinde=, Polizei= und Forstverwaltungen an die Ausflügler, die öffentlichen Anlagen und Waldungen zu schonen und nicht als Abladestätten für Papier, Abfallstoffe usw. zu benutzen, sind in diesem Frühjahre bis jetzt vergeblich und ohne Erfolg gewesen. Wie der Augenschein im Grunewald und in den Forstgebieten an der Oberspree lehrt, haben dort die Ausflügler ohne jede Rücksichtnahme auf die Allgemeinheit in einer Weise gehaust, daß weite Strecken Müllplätzen gleichen. Die Unsitte, Papier und Abfallstoffe achtlos wegzuwerfen, kann schon deshalb nicht scharf genug gerügt werden, weil bei der jetzt herrschenden Trockenheit durch die meist fettigen und darum leicht brennbaren Papierabfälle Waldbrände nicht nur begünstigt werden, sondern auch erheblich an Ausdehnung zunehmen können. Die Papierabfälle bilden also eine unmittelbar Gefahr für die Waldbrände. Die Aufsichtsbeamten sind neuerdings angewiesen worden, mit aller Strenge gegen die Ausflügler vorzugehen, die alle Warnungen außer acht lassen und sich über die Schonung der öffentlichen Anlagen einfach rücksichtslos hinwegsetzen.

Nr. 146 – Freitag – 25. Juni 1915
Arge Belästigungen bereiten Rotten von acht= bis zehnjährigen Knaben, öfters auch Mädchen, den Schaffnerinnen auf den Endstellen der Straßenbahnlinien 47 und 48 in der Rudower und Walterstraße, necken, hänseln, verhöhnen, beschimpfen sie, springen auf die Plattform und läuten, um dann wieder am anderen Ende des Wagens zu erscheinen und dasselbe Spiel zu versuchen. Und je stärker sich die Angestellte darüber erregt, desto ärger wird der Unfug, so daß die Frauen schier machtlos dagegen sind. Einer der flüchtenden Missetäter wurde von einem männlichen Bediensteten gefaßt und gehörig verprügelt. Das half fürs erste. Aber bei der nächsten Gelegenheit wiederholte sich das tolle Treiben aufs neue. Ja, ein Bube lief auf seiner Flucht gegen einen unbemerkt ankommenden Triebwagen und zog sich Verletzungen zu. Es wäre wohl gut, wenn zur Steuerung des Unfugs die Leute von der Straße den Schaffnerinnen zu Hilfe eilen und die Polizei rufen würden.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1915 übernommen. Das Original befindet- sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Frauen an der Heimatfront

Emanzipation auf Leihbasis

Nicht nur Männer wurden im Ersten Weltkrieg mobilisiert. Auch die Frauen standen ihren Mann und übernahmen Funktionen und Berufe, zu denen sie zuvor keinen Zugang hatten, weil sie dem traditionellen Rollenverständnis widersprachen. Frauen trugen die Post aus, schufteten in den Fabriken, fuhren Lastwagen und Straßenbahnen, säten auf den Feldern aus und brachten die Ernte ein. Nur so konnte die Versorgung der Soldaten mit Kriegsgerät und Nahrungsmitteln sichergestellt werden.

Fensterputzerinnen
Fensterputzerinnen in Männerkleidung.                                            Foto: Deutsches Historisches Museum

All dies rief den Eindruck hervor, dass Frauen im Krieg nicht mehr auf ihre vermeintlich angestammten Plätze in Haushalt und Familie begrenzt waren, sondern ein selbständiges Leben jenseits des häuslichen Bereichs führen konnten.
Auch in der Familie hatten jetzt die Frauen das Sagen, die Erziehung der Kinder und die Anschaffungen für den Haushalt lagen gänzlich in ihrer Verantwortung. Zwangsläufig wurden sie dadurch selbständiger und selbstbewusster.
Allerdings stellten diese vermeintlichen Fortschritte oft keineswegs einen Aufbruch zu neuen Ufern dar. Sie waren im Gegenteil eine Notwendigkeit, das Überleben für sich selbst und für die Familie zu sichern und brachten Ausbeutung und Abnutzung mit sich. Frauen wurden nicht nur schlechter bezahlt als Männer, sie besaßen meist auch keine Ausbildung als Facharbeiter. Unter den schnell angelernten Arbeiterinnen kam es daher vielfach zu schweren, teilweise auch tödlichen Unfällen.
Zur Doppelbelastung durch Erwerbs- und Hausarbeit kamen die Probleme der Kindererziehung und der Versorgung mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern hinzu.
Zudem war es eine Emanzipation auf Leihbasis. Denn als die Männer nach dem Krieg ihre Arbeitsplätze wieder besetzten, war dort für die meisten Frauen kein Platz mehr. Sie kehrten deshalb zu Heim und Herd zurück. Lediglich in der öffentlichen und privaten Verwaltung haben Frauen dauerhaft Fuß gefasst und forderten mehr Teilhabe an der Politik. Das führte schließlich dazu, dass in der Weimarer Verfassung das aktive und passive Frauenwahlrecht festgeschrieben wurde.

mr