Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. RempeNK_Tagblatt-Kopf

Nr. 130 – Sonnabend, 6. Juni 1914
Die Telegraphen= und Fernsprechleitungen sind im vergangenen Jahre mutwilligen Beschädigungen noch zahlreicher ausgesetzt gewesen als früher. In der Regel sind es Schulkinder und junge Leute, auch Fortbildungsschüler, die ohne richtige Erkenntnis der Tragweite ihrer Handlung die Porzellanglocken zur Zielscheibe ihrer Wurfübungen machen. Es wird einen Strafverfahren gegen sie eingeleitet, das mit gerichtlichen Verweisen oder mit Gefängnisstrafe endigt. In einem solchen Falle hat die Strafkammer festgestellt, daß die Täter zwar in der Schule über die Bedeutung und Wichtigkeit der Isolatoren belehrt worden waren. Sie hatten aber keine Kenntnis erhalten von der Strafbarkeit mutwilliger Beschädigungen und von den ernsten Folgen, die derartige Beschädigungen für die Täter nach sich ziehen können. Einzelne Regierungen haben deshalb die Schuldeputationen und Kreisschulinspektoren ersucht, die unterstellten Lehrpersonen anzuweisen, daß sie die Schulkinder und die Fortbildungsschüler über die Wichtigkeit der Telegraphenanlagen belehren, die den öffentlichen Interessen dienen. Sie sollen vor allem vor der Zertrümmerung der Porzellanisolatoren eindringlich warnen und auf die ernsten Folgen nachdrücklich hinweisen, die solche Beschädigungen für den Täter nach sich ziehen können. § 317 des Strafgesetzbuches bedroht mit Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren, wer vorsätzlich und rechtswidrig den Betrieb einer öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphenanlage dadurch verhindert oder gefährdet, daß er Teile oder Zubehörungen derselben beschädigt oder Veränderungen daran vornimmt.

Nr. 131 – Sonntag, 7. Juni 1914
Moderne Jugend. Zwei Passanten sahen gestern morgen gegen 9 Uhr, wie am Lohmühlenplatz ein junges Mädchen in selbstmörderischer Absicht in den Schiffahrtskanal sprang. Beide Herren machten sich sofort an das Rettungswerk und es gelang ihnen auch, die Lebensmüde, wenn auch bereits bewußtlos, dem nassen Element zu entreißen. Ein herbeigerufener Krankenwagen brachte das junge Mädchen nach der Unfallstation in der Steinmetzstraße, woselbst es gelang, die Lebensmüde wieder zum Bewußtsein zu bringen.Nun wurde das Mädchen als die 16jährige Arbeiterin Agnes Schumacher festgestellt, welche Jägerstraße 50 bei den Eltern wohnt; sie wurde nach der elterlichen Wohnung gebracht. Wie wir hören, hatte das Mädchen sich der Mutter gegenüber ungehörig benommen, hatte deshalb von dieser eine wohlverdiente Ermahnung erhalten und zur Strafe für ihr Betragen kein Fahrgeld bekommen, so daß sie gestern morgen zu Fuß nach ihrer Arbeitsstelle gehen sollte. Aus Aerger hierüber hatte die Sechzehnjährige dann den Selbstmordversuch unternommen.

Nr 135 – Freitag, 12. Juni 1914
Das Haustelephon in der Westentasche. Ein alter Wunsch zivilisierter Menschen ist es, stets das Telephon in der Westentasche bei sich zu tragen, um jederzeit und überall mit jedem Bekannten sprechen zu können. Ein Schritt auf dem Wege zu diesem erstrebenswerten Ziele stellt ein Apparat dar, den die Telephonfabrik Mix u. Genest A.=G. jetzt auf den Markt bringt. Wenn das Erzeugnis deutschen Scharfsinns auch noch nicht des Leitungsdrahtes entbehren kann, so bedeutet es doch wegen seiner anderen vorzüglichen Eigenschaften einen vollen Erfolg. Der uhrenförmige Apparat ist so klein, daß er in der Westentasche Platz findet, und nachdem man ihn in der Wohnung an die Klingelleitung angeschlossen hat, ist das »Mirakel« genannte Wunder der Technik gebrauchsfertig. Man hält das Mirakel, das keinen Sprechtrichter besitzt, ans Ohr und spricht einfach in die Luft; trotzdem versteht der Angesprochene jedes Wort klar und deutlich. Da der Preis sehr niedrig ist, wird sich das »Mirakel« wohl bald einbürgern.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1914 übernommen.
Die Originale befinden sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Der Grundstein für das Informationszeitalter

Die Telegrafie revolutioniert die Nachrichtenverbreitung

Die erste Telegrafennachricht war einer der Meilensteine der modernen Technikgeschichte, ähnlich bahnbrechend wie die erste mit Dampf betriebene Eisenbahn. Innerhalb kürzester Zeit revolutionierte die Telegrafie die Informations- und Nachrichtenübermittlung und legte damit den Grundstein für die globale Informationsgesellschaft.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es einen regelrechten Boom und so waren bereits in den späten 1870er-Jahren weite Teile der Erde telegrafisch erschlossen.

Isolator_swIsolatoren.     Foto:Wikipedia

Die Telegrafie brachte eine gegenüber den damals üblichen Formen der Nachrichtenübermittlung mit Postkutsche, Brieftaube, Eisenbahn oder Dampfschiff unvorstellbare Beschleunigung der Informationsverbreitung mit sich. Das Nachrichtenwesen und der Handel profitierten, ebenso wie der kulturelle und soziale Austausch über weite Entfernungen hinweg. Eine Zerstörung der Überlandleitungen brachte diese Kommunikation empfindlich ins Stocken.
Dafür hatten übermütige Jungen aber eher wenig Sinn. Die Isolatoren der Fernsprechleitungen besaßen für sie eine magische Anziehungskraft. Viele Steine wurden dagegen geworfen. Es machte so schön »pitsch«, wenn ein Isolator zerstört wurde. 

mr